Wochenzeitung .............. 13. August 1997 ........... Aus aller Welt

"...irgendwie ein außergewöhnlicher Ort"


Eine Stadt geht aus sich heraus und findet zu sich selbst. Neue Serie über die aufregenden Vorgänge am ehmaligen Kulturforum Berlins . Von unserem Berliner Korrespondenten Rudi Ratlos

Erstaunliches tut sich seit einem Jahr am ehemaligen Kulturforum von Berlin. Dö ste es zuvor jahrzehntelang in ei nem wüsten Zustand vor sich hin, scheint es seit gut einem Jahr wie aufgeweckt zu sein. Es ist eine der eigenartigsten und beliebtesten Stellen Berlins geworden. Woher kommt diese eigenartige, ja fast mystische Atmosphäre? Was ist es, was diesen nun "Kulturland s chaft" genannten Ort wachgekitzelt hat? Und: Könnte die hier er lebbare Qualität von Stadt ein Modell für andere Orte sein? Mit diesen Fragen soll sich eine Folge von Artikeln be schäftigen, die heute mit einem Bericht über die aktuelle Stim mung und deren Anfänge einge leitet wird.

Wer zum ersten Mal hier her kommt, fragt sich, was hier nur los ist. "Ja, also wir kamen hier gerade aus der Nationalga lerie und wollten ja gleich weiter, zurück in die Stadt oder noch'n Blick in den Tiergarten werfen, die Luiseninsel soll ja da ganz nah sein. Aber im Moment fühlen wir uns da 'reingezogen von der Dynamik hier. Ne, da das is ja schon 'ne faszinierende Atmosphäre, da bin ich neugierig geworden, was das hier wohl is. Krie gt man Lust, sich treiben zu lassen. Irgendwie zwar einiges los - aber doch irgendwie 'ne ruhige Stimmung, ja? Ja, wir sind gerade für 'ne Woche hier in Berlin zu Besuch. Aber wir laufen jetzt erst mal noch hier herum", so eine Touristin vor Ort. Kein Wunder, denn diese enorm groBe und abwechs lungsreiche Freifläche und was hier zu sehen und zu erleben ist, macht neugierig.

Eigentlich merkwürdig, daB man sich überhaupt nicht verloren vorkommt angesichts dieser Dimensionen. Doch der Rand ist gefaBt durch die berühmte Philharmonie, die Nationalgalerie, den Museums komplex und die Staatsbiblio thek, die wie Dinosaurier der Hochkultur diesem Raum eine geschlossene Form geben, ohne ihn abzuschlieBen. Am span nendsten ist dieser Moment des Übergangs: K ommt man von der Stadt, so hat man fast den Eindruck, daB sie einem den Rücken kehren und man merkt, daB hier etwas neues beginnt. Steht man hingegen hier in der Mitte, so stellt sich der Ein druck ein, als würden sie die Stadt zurückdrängen und einem sonst unmöglichen Bewegungs raum Platz einräumen. Sie gehören nicht zur Stadt und nicht zu dieser Fläche - sie sind das Moment, das das Verhältnis von Stadt und Kulturlandschaft definiert.

Dadurch ist dieser Ort auch nicht mit herkömmlichen Plätzen zu vergleichen. Ein Platz von dieser GröBe würde wüst und öde wirken. Kaum eine Stadt wäre in der Lage einen Platz von dieser GröBe zu füllen. Dabei geht es nicht einmal um die Anzahl Men schen, sondern um den Spannungsbogen zwischen den gegenüberliegenden Platzfassa den, der jeden wirklich guten Platz zusammenhält. Hier jedoch ist die Stadt unterbro chen. Nein, dies hier ist kein Platz und will auch keiner sein - und darin liegt seine Stärke! Diese Kulturlandschaft hat ihren eigenen autonomen Charakter entwickelt. Es ist ein Raum eines Charakters entstan den, den es bis dato in Berlin noch nicht gab. Am ehesten fühlt man sich an den Platz der Republik vor dem 1995 ver hüllten Reichstag erinnert. J a, es ist, als würde hier die ganze Stadt Pause machen, nein: als würde die Stadt zum Pause - machen hier her kommen. "...Ick mach g'rad Pause vom Arbeiten in der Stabi. Aus spannen, den Blick in die Weite schweifen lassen . AuBerdem halt ich mich gerne über die Entwicklung hier auf dem Laufenden. Seit das hier losging vor 'nem Jahr ist ja erstaunlich viel passiert. Unglaublich, was man so auf die Beine stellen kann. Oder vielleicht sollte man sagen: was sich so auf die Beine stellen kann...". Es wird gefaulenzt oder getanzt, hier trifft man sich oder hat seine Ruhe, die einen picknicken, die anderen sind zusammen ins Spielen vertieft, was sich zum Teil über das ganze Gelände ausbreitet, ein paar tragen Masken, an verschiedenen Stellen sieht man kleinere oder gröBere Gruppen, Leute stehen oder sitzen zusammen und sind ins Gespräch verstrickt - ein Ort der Möglichkeit f ür Expe rimente und die Entwicklung von neuen städtischen Um gangsformen. Wer sich durch die Textur Berlins bewegt, stöBt hier auf ihr Komma - oder noch besser: auf einen Doppel punkt.

Auf den ersten Blick wirkt das Gelände wie ein gigantischer Spielplatz für Erwachsene: Jedoch im Gegensatz zu her kömmlichen Kinderspielplät zen, wo die Erwachsenenwelt durch kleine Hä uschen und Schiffchen imitiert wird, handelt es sich bei den hiesigen "Spielgeräten" eher um aus einer Traumwelt entrückte, anrührende Gestalten...

Ein Blickfang sind archaisch anmutende Gebilde, die auf die Landschaft verteilt sind. Als Fixpunkte bieten sie Orientie rung im Gelände. Sie sind Anlaufstellen, an denen sich die Aktivitäten bündeln. Sie unter scheiden sich voneinander, doch bilden sie miteinander irgend wie eine ordnende Struktur. Gleichzeitig stiften sie Verwir rung: Sie sind attraktiv und räts elhaft, man fühlt sich förmlich angezogen und hat doch auch ein wenig Angst, als "koste der Eintritt den Verstand..." wie in Hesses Steppenwolf. Letztlich kann es aber keiner lassen und wer sie erst einmal benutzt hat, wun dert sich über seine eigenen vormaligen Hemmungen. Hier wird greifbar, was Andre Gide einmal gesagt hat: "Man ent deckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren".

Ihre Struktur weist über den Ort an sich hinaus. Manche von ihnen funktionieren wie Kommunikations - Scharniere zwischen dem Geschehen am Ort und dem Geschehen in der Stadt. Die Gespräche einer ganzen Schar interessierter Internet-user, die sich auf die Möglichkeiten für die Kultur landschaft beziehen, werden permanent online am Ort öffentlich projiziert. Innerhalb weniger Wochen ist die "Kulturlandschaft Berlin" im Netz einer der beliebtesten Treffpunkte der online-Ge sprächswelt geworden! Ein er dieser "Anwohner" ist begei stert , denn "wo sonst ist es möglich, sein eigenes, pures Interesse unmittelbar im öffent lichen Raum anzulegen? Und welcher öffentliche Raum sonst bietet die Möglichkeit direktes Beobachtungs- und Versuchs feld der charakteristischen Netz- Kommunikation zu sein? Denn die R eduktion der Teilnehmer auf ihr Interesse , kreiert ja einen höchst inspirierten Kon takt. Unsere Konversation in Bezug auf diesen Ort hat nicht unwesentlich zur seiner jetzigen Bedeutung beigetragen!"

Starter für diese Entwicklung war letztes Jahr eine fahrbare Tribüne. Ein Gegenstand, der, wie fast alles hier, eines Tages "einfach da war". Wie sich spä ter herausstellte, ist sie Aus druck und Ergebnis der vom "TriBühne e.V." eingenomme nen Haltung zu diesem Ort. "Wir verstehen uns als so was wie ein 'Büro für Ermögli chung' ", so einer der Initiato ren, Karsten Feucht. Mittler weile kommen zur Abenddäm merung aus der ganzen Stadt Menschen herbei - die Tribüne hat sich als der "Sunset-point" von Berlin durchgesetzt.

Ihre ersten Aktionen und AnstöBe im Sommer letzten Jahres gaben diesem Ort eine besondere Bedeutung, weckten nach und nach das Interesse und erhöhten die Präsenz. Sie verstehen sich jedoch nicht als die Autoren dessen, was hier geschieht. "Hier ist jeder selbst verantwortlich. Gerade im Spannungsverhältnis zu der so genannten Hektik des Stadtle bens rings herum, ist dieser Ort eine ungeahnte Möglichkeit etwas anderes zu tun - nein, eher: zu sein. Ja, das ist es, was den Ort so speziell macht: Hier kann jeder so sein, wie er ist." Die wohl kürzeste Formel, um diese Zone zu charakterisieren.


Kulturlandschaft Berlin:






by Karsten Feucht @ the "Institute for Changings of Point of View", Berlin. Get more information about this Tri-Bühne project.