Spurensuche im Labyrinth der Kabel

CHRISTINA TILMANN     Tagesspiegel, 18. Januar 1998

      Kunstprojekte der Internationalen Stadt Berlin widmen sich dem Raum im Netz

      Auf Schatzsuche sind Menschen seit Jahrhunderten gegangen, ausgestattet mit geheimnisvollen Karten, Ortsbeschreibungen, auf verschlungenen Wegen durch Labyrinthe und Ruinen. Auch wer sich in den Kunst-Straßen der Internationalen Stadt Berlin verirrt, kann etwas wiederfinden von jenem Kitzel des Entdeckens: Mehrere Kunstprojekte haben anhand von Fotos, Grundrissen oder Stadtplänen versucht, reale oder virtuelle Orte im Netz zu schaffen und damit Verschlossenes zu öffnen, Vergängliches zu bewahren oder Fernes nahezubringen.

      So archiviert das "Museum of dead places" seit Mai 1996 nicht genutzte oder vom Verschwinden bedrohte Industriearchitektur in Fotografien: Bunker, Wassertürme, KdF- und NVA-Unterkünfte, Garagen und Zementmühlen werden nebeneinandergestellt: Trostlose Bilder fortschreitenden Verfalls.

      Ähnlichen Objekten widmet sich das von ICB-Mitgliedern initiierte Projekt "FeldReise": Im Sommer 1994 trafen sich 20 Künstler auf einem Kasernengelände bei Krampnitz in der Nähe von Potsdam, um mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln wie Performances, Spurensuchen und Filmen die "Spannung des Ortes zu begreifen", der von den Nazis angelegt und von der sowjetischen Armee genutzt wurde. Das Areal ist dem Publikum nicht zugänglich ­ die Präsentation im Netz ist also der einzige Weg, mit den Kunstaktionen an die Öffentlichkeit zu gelangen.

      "ReMEMMberINGEN" verfolgt ein harmloseres Ziel: Die Suche nach der eigenen Vergangenheit. Im Sommer 1997 verbinden Wolfgang Müller-Funk und Roland Albrecht in ihrer Geburtsstadt Memmingen Fotografien, Erinnerungsfetzen, Zitate und Stadtgeschichten zu einer Kartografie der Erinnerung. Das Kliêken auf die verstreuten Punkte ersetzt den Spaziergang durch den kleinen Ort, der immer wieder durch Fotos von damals und heute vergegenwärtigt wird.

      Völlig virtuell schließlich ist das von Karl Heinz Jeron und Joachim Blank für die dokumenta X 1997 erstellte Projekt "without addresses": In Anlehnung an Roland Barthes "Reich der Zeichen" der Orientierungsversuche im adressenlosen Tokyo beschreibt, wird anhand von Besucherbeiträgen ein imaginärer Stadtplan aufgebaut.

      Waren die Ortsdokumentationen ein Versuch, Vorhandenes medial zu vermitteln, wird in den Reisebeschreibungen der Vorgang selbst zum Kunstwerk. "Siberian Deal" dokumentiert eine Sibirien-Reise, die schon während ihrer Durchführung online begleitet wurde. Durch zunehmende Kommunikationsschwierigkeiten angesichts unzuverlässiger Telefonverbindungen wird die minutiös geplante Reise für Eva Wolgemuth und Kathy Rae Hoffmann zum improvisierten Abenteuer im "schwarzen Loch" der Informationslosigkeit. Ins Innere des Internet führt Sabine Helmers und Armin Haase mit "Intra Internet", indem sie den Kabeln (Wires) des Netzes folgen ­ zurück in die Geschichte des Informationsnetzes.

      Die in der Internationalen Stadt angesiedelten Kunstprojekte sind Dokumente einmaliger Kunstaktionen, die in Realität vergangen, nur noch virtuell überlebt haben. Wenn die Internationale Stadt demnächst geschlossen wird, könnte sich das Paradox ergeben, daß auch virtuelle Welten nicht vom realen Untergang verschont bleiben.


      © 1998 Verlag DER TAGESSPIEGEL


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