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Busohrenzeuge

Mehrere Unfälle

Fliegende Neurosen

Busohrenzeuge

Haltestelle

Versuchen Sie einmal,
nicht an Elefanten zu denken.
Raymond Kurzweil


Ich fahre mit der Buslinie 100 zum Zoo. Hinter mir auf dem Busoberdeck reden eine männliche und eine weibliche Stimmen miteinander. Die Stimmlautstärke ist monoton heruntergeschraubt. Da ich zwar neugierig bin, aber nicht unhöflich, drehe ich mich nicht um. Ich höre nur zu und sehe nichts.

"Bin ich froh, dass wir nach Hause fahren," sagt er mit Erleichterung, "ich kann diese beiden nicht leiden."

"Warum nicht?", fragt sie.

"Die sind mir zu exaltiert. Es ist immer so eine Aufregung um die beiden herum. Vor allem er stört mich, weil er glaubt, für alles und jedes die richtige Deutung zu haben."

"Darüber kann man sich unterhalten. Du hast aber nichts gesagt."

"Dann hätten wir uns gestritten, dazu hatte ich keine Lust."

"Dafür fühlst du dich jetzt aber schlecht. Außerdem glaube ich nicht, dass wir uns gestritten hätten, das ist nur deine Interpretation. Ich sehe die beiden nicht so wie du."

"Na gut, es sind deine Freunde. Du kennst sie wahrscheinlich aus anderen Zusammenhängen. Auf mich wirken sie einfach anstrengend."

"Das ist aber seltsam: Du hast die ganze Zeit den Albernen gespielt und immer noch einen Witz draufgegeben. Du hast nicht den Eindruck gemacht, dass du dich unwohl fühlst."

" Das war für mich eine Art Notwehr."

"Ich find´s schwach, dass du nichts gesagt hast. Ich hätte was gesagt."

"Aber es sind ja auch deine Freunde. Er strahlte so ein bayrisches Selbstbewusstsein aus. Ich musste darauf reagieren, aber ich wollte mich nicht streiten. Auf Dauer ist das nervenaufreibend. Wenn deine Freunde wieder nach Berlin kommen, werde ich einfach vorher abhauen. Eigentlich will ich mit denen nichts zu tun haben."

"Nee. Du bist sauer, weil du zu schwach warst, dich durchzusetzen."

"Ich wollte mich gar nicht durchsetzen. Dazu interessieren mich die beiden nicht genug."

Bus, oben

"Irgendwas hättest du ganz anders machen müssen..."

Ich muss aussteigen. Beim Aufstehen sehe ich mir die beiden an: ein fast identisch aussehendes Paar mit langen blonden Haaren, braunen Jacken, schwarzen Hosen.


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Mehrere Unfälle

"Ach, dagegen läßt sich nichts machen", sagte die Katze;
hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt, du bist verrückt."
Woher weißt Du denn, daß ich verrückt bin?" fragte Alice
"Mußt du ja sein," sagte die Katze, "sonst wärst du doch gar nicht hier."
Lewis Carroll

Dies ist der letzte Regionalzug zum Bahnhof Zoo. Eine alte Frau erzählt einem Mitreisenden Familiengeschichten. Der Großraumwagen hört interessiert zu: Die Frau redet mit der lauten, gutartikulierten Stimme der Schwerhörigen.

"Mein Mann und ich hatten 1964 einen Autounfall," sagt sie mit Blick auf den ungefähr 50-jährigen Mann.

Hier nicht

"Die Schuld an dem Unfall hatte dummerweise mein Mann, er hat dem anderen Fahrer die Vorfahrt genommen. Wir haben uns dann mit unserem Ford überschlagen."

" Und?! Ist Ihnen etwas passiert?"

"Ich hatte einen Schlüsselbeinbruch und mehrere gebrochene Rippen. Im Krankenhausbett durfte ich mich nicht bewegen, weil sonst die gebrochenen Rippen meine Lunge zerstochen hätten."

"Das hört sich ja schlimm an."

Die Leute im Großraumwagen kucken sich an und grinsen so merkwürdig.

"Das ist noch gar nichts. Sie hätten mal meinen Mann sehen sollen! Der hatte den Arm gebrochen, das Bein war dreimal gebrochen und er hatte Schnittverletzungen im Gesicht. Den konnte ich vor lauter Verbänden gar nicht mehr sehen."

"Das sind ja richtige Horrorstories, die Sie mir hier erzählen."

Die alte Frau nickt richtig zufrieden.

"Aber das Schlimmste kam erst später. Mein Mann war starker Raucher und hatte schon vor dem Unfall Asthmaprobleme. Durch den Schock verschlimmerte sich das Asthma und er bekam keine Luft mehr. Die im Krankenhaus mußten einen Luftröhrenschnitt machen. So richtig hat sich mein Mann von dem Unfall nicht wieder erholt. Das Bein blieb steif. Zu dem Astma kamen Herzprobleme, drei Jahre nach dem Unfall ist er gestorben."

"Wie furchtbar. Oh, es tut mir leid, ich muß jetzt aussteigen."

Wir sind in Spandau. Die alte Frau sieht sich um, ob sie nicht ein anderes Opfer findet. Ich starre mit angestrengt desinteressiertem Gesicht in die andere Richtung. Bis Zoo bleibt es ruhig. Trotzdem ist die Situation peinlich.

Polizei

Am Bahnhof Zoo ist gerade Polizeieinsatz, Routinesachen, wie sie es nennen. Routine sind für die: Penner, Fixer, Stricher. Ich fluche. Obwohl ich gerannt bin, ist mein Nachtbus weggefahren und ich muss eine halbe Stunde warten, bei einer Saukälte. Der Berliner Bus ist immer gerade weg: Murphy´s Gesetz. In der Zwischenzeit mache ich vorsichtig und unbemerkt Fotos. Hoffentlich verhaftet mich die Polizei nicht.


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Fliegende Neurosen

Worüber man nicht sprechen kann,
darüber muß man Schweigen.
Ludwig Wittgenstein

Mein Freund Wolf wartet an der Schlossstraße / Ecke Neufertstraße. Wir wollen auf ein Bier in eine Kneipe gehen. Trotz Kälte gehen wir langsam auf dem Mittelstreifen. Ich habe Wolf seit einem halben Jahr nicht gesehen und freue mich auf das Treffen. Aber Wolf ist deprimiert. Er erzählt:

Kastanie

"Du weißt doch, dass ich vor einem Jahr diesen Job als Betreuer im Obdachlosenheim bekommen habe. Einer meiner ersten Betreuungsfälle war eine Pennerin, die nicht sprechen konnte oder wollte. Sie saß die ganze Zeit in ihrem Zimmer vor der Heizung und schaute stumpf vor sich hin. Ich habe versucht, sie zum Reden zu bringen, erfolglos. Ihre einzige Reaktion war, dass sie mich immer anstarrte während ich auf sie einredete. Weil ich noch andere Patienten zu betreuen hatte, die mich viel mehr beschäftigten und in Gespräche verwickelten, machte ich mir über die Frau wenig Gedanken."

Das hatte ich befürchtet. Wir reden die ganze Zeit über Irre. Wir halten die Kälte nicht mehr aus und gehen in die Kastanie. Die Geschichte drückte auf Wolfs Stimmung.

"Nach ein paar Monaten fühlte ich mich zunehmend müde, langsam und schwach. 'Der Job ist irgendwie anstrengend', dachte ich und überlegte mir Strategien, wie ich kürzertreten konnte. Nichts half mir. Es ging mir immer mieser. Die Kollegen kritisierten mich und ich fühlte mich missverstanden. An einem Sonntag ging ich ins Bett und konnte am Montag nicht mehr aufstehen. Ich bekam einen Termin bei einem Supervisor.

Kneipe

Er vermutete ein Burnout-Syndrom und ließ sich Episoden aus meiner Arbeit erzählen. Als ich die stumme Pennerin beiläufig erwähnte, sagte er: 'Sie hat dich nicht angestarrt, sie hat dich hypnotisiert. Es hat eine Übertragung stattgefunden. Du hast dich mit ihrer Neurose infiziert.'

Ich konnte nicht glauben, dass so etwas am Ende des 20. Jahrhunderts möglich ist. 'Doch. Ist es.' Der Psychologe erzählte mir jetzt eine selbsterlebte Patientengeschichte. Er machte einen therapeutischen Spaziergang mit einem Schizophrenen über den Kreuzberger Türkenmarkt. Als er zu seinem nächsten Termin musste, bat der Psychologe den Patienten um seine Telefonnnummer. 'Du kennst sie,' antwortete der Schizophrene. 'Nein, du bist doch gerade erst aus der Irrenanstalt in deine Wohnung gezogen, die Nummer habe ich noch nicht.' 'Du hast die Nummer, sag sie mir!' Der Psychologe entschied, das Spiel mitzumachen und sagte eine Nummer. 'Jetzt ruf da an.' Auch das tat der Psychologe: Es meldete sich der Anrufbeantworter des Schizophrenen.

Jedenfalls ging es mir danach langsam wieder besser."

Warum wollte Wolf mich heute unbedingt treffen? Ich muss aufpassen, wie es mir in den nächsten Tagen geht!!!

Achtung, liebe Leser, es ist gefährlich, diese Seite zu lange anzustarren!

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