Arkadij und Boris Strugazki
STADT DER VERDAMMTEN
(Grad Obretschenny, 1989)

Dieses Buch gilt als letztes gemeinsames Werk der Brüder Strugazki, stammt aber wohl tatsächlich aus der ersten Hälfte der 70er Jahre. Also dem Höhepunkt ihres gesellschaftskritischen Schaffens, als Romane wie Die Schnecke am Hang und Die häßlichen Schwäne erschienen. Damit brachten sie aber die Zensurbehörden derart gegen sich auf, daß Stadt der Verdammten erst in der Perestroika herauskommen konnte.

Hintergrund der Handlung ist eine sonderbare künstliche Welt, die "Stadt", in der Erd-Menschen aller Nationalitäten und aus verschiedenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts angesiedelt sind. Eine verwirrende Welt, in der die Naturgesetze teilweise außer Kraft gesetzt sind, und in der eine fremde, nicht definierte Intelligenz mit den Menschen ein merkwürdiges Spiel spielt - das "Große Experiment" - dessen Sinn und Ziel unklar bleibt. In dieser Kulisse lassen die Strugazkis ihre Protagonisten agieren. Ein kleiner Kreis wird näher beleuchtet und vom Charakter her überzeugend gezeichnet: der Ex-Komsomolze Andrej Woronin, der Jude Isja Katzman, der Wehrmachts-Unteroffizier Fritz Geiger, der Chinese Wan.

Angenehm ist der Verzicht auf einseitige Sympathieverteilungen, auch die "Bösen" haben ihre guten Seiten und die Rollen können sich auch ändern. In der Schilderung scheinbar banaler Erlebnisse der Haupthelden entwickelt sich eine geballte Zivilisationskritik und Analyse menschlichen Zusammenlebens. Eine egalitäre, aber marode Gesellschaft kippt in einem Putsch des "Führers" Geiger um in eine Diktatur. Die endet aber nicht in einem Inferno, sondern in einem obrigkeitlichen System, das die Existenz des Einzelnen sichert, aber wenig Freiräume läßt. Gehorsam statt Mitdenken, Überwachung statt Vertrauen.

Andrej Woronin, die Schlüsselfigur des Romanes, gerät wider Willen in den Bannkreis der Macht des neuen Präsidenten Fritz Geiger. Eine Expedition an die Grenzen der Kunstwelt der "Stadt" kommt ihm da gerade recht zu einer Selbstfindung. Doch diese Expedition gestaltet sich als surrealistischer Traum, als Reise in den Inner Space - Traumwelt und scheinbare Realität verschmelzen. Der Showdown ist genauso metaphorisch wie das ganze Buch, das viele Fragen aufwirft, aber deren Beantwortung offen läßt. So wird jeder etwas anderes daraus mitnehmen. Stadt der Verdammten ist ein fulminantes Spätwerk von philosophischer Tiefe. Ein Lesegenuß pur, ein Stück "russische Seele" wohl auch. Kein Roman zum Durchhasten, Muße und Phantasie sind vonnöten.

Ullstein 23651, 448 Seiten, DM 14.90 Siegfried Breuer